Märchen zum Genießen

Wie die Geige auf die Welt kam

 

Es waren einmal ein armer Mann und eine arme Frau. Die hatten lange Zeit keine Kinder, und darüber waren sie sehr traurig. Nun geschah es einmal, dass die Frau in den Wald ging, um Holz zu sammeln. Da begegnete ihr ein uraltes Weiblein, das sprach zu ihr: „Ich kenne deinen Kummer, und ich kann dir helfen. Du musst tun, was ich dir sage. Gehe nach Hause und nimm einen Kürbis. Teile ihn in zwei Hälfte und gieße in jede Hälfte Milch hinein und dann trinke diese aus. Wenn eine Zeit vorüber ist, wirst du einen Sohn bekommen. Der wird einmal sehr glücklich werden in seinem Leben, denn ich will seine Patin sein.“ Und dann war die Alte verschwunden, es war, als hätte es sie nie gegeben.

Die arme Frau ging nach Hause und tat, was ihr die Alte geraten hatte. Als einige Zeit vorübergegangen war, da bekam sie einen schönen Knaben, der wuchs im Laufe der Jahre zu einem stattlichen Jüngling heran. Doch er war kaum achtzehn Jahre alt geworden, da starben ihm Vater und Mutter. Und weil er nun so ganz alleine war, beschloss er, in die weite Welt hinauszuwandern und das Glück zu suchen.

Durch viele Dörfer, Städte und Länder wanderte er, ohne das Glück irgendwo zu finden. Eines Tages kam er zu einer großen Stadt, in der ein reicher, mächtiger und grausamer König herrschte. Der hatte eine einzige Tochter, die war wunderschön. Und der König hatte in allen Landen verkünden lassen, dass nur derjenige seine Tochter zur Frau bekomme, der etwas schaffen könne, was man noch nie gesehen oder gehört habe auf der Welt. Begehre jedoch jemand die schöne Königstochter zur Frau und ihm gelinde dies nicht, dann müsse er es mit seinem Leben bezahlen.

Nun hatten schon viele Prinzen, Grafen und andere wackere Jünglinge um die Königstochter geworben, doch keiner hatte etwas schaffen können, was man noch nie gesehen oder gehört hatte auf der Welt. Und alle ließ der grausame König ums Leben bringen.

Da trat der Jüngling vor den Königsthron und fragte: „Was muss ich denn tun, um deine schöne Tochter zur Frau zu bekommen?“

„Weil du gar so dumm fragst“, rief der König zornig, „sollst du in den Kerker geworfen werden und dort Hungers sterben.“

Schon eilten Diener herbei, ergriffen den armen Jüngling und warfen ihn in den Kerker.

Als er nun ganz verzweifelt im Kerkerdunkel saß, da wurde es mit einem Male hell, und die Matuya, die Feenkönigin, stand vor ihm. Sie sprach: „Sei nicht traurig, ich bin gekommen, um dir zu helfen, denn ich bin deine Patin. Du sollst die schöne Königstochter zur Frau bekommen, dazu musst du tun, was ich dir sage. Ziehe mir einige meiner langen Haare aus, und dann spanne sie über diesen Stab und über dieses Kästchen, das ich dir mitgebracht habe.“

Der Jüngling tat, wie ihm die Matuya geraten hatte. Als er fertig war, nahm sie das Kästchen in ihre Hände und lachte ihr silberhelles Lachen hinein. Dann weinte sie und ließ ein paar ihrer Tränen in das Kästchen fallen. Sie gab es dem Jüngling zurück und sprach: „Jetzt lasse dich wieder vor den Königsthron führen und dann streiche mit dem Stab über das Kästchen, und du wirst die Menschen damit traurig oder fröhlich stimmen.“

Dann war die Matuya verschwunden, und es war wieder dunkel im Kerker wie zuvor.

Der Jüngling aber pochte an die Kerkertür, bis die Diener gelaufen kamen und ihm die Türe öffneten. Er ließ sich vor den König führen und sprach: „Nun höre und sehe, was ich geschaffen habe!“

Dann nahm er das Kästchen unter sein Kinn und strich mit dem Stab darüber und da erklang das silberhelle Lachen der Feenkönigin aus dem Kästchen, und alle, die es hörten, lachten mit. Wieder strich der Jüngling über das Kästchen, und nun hörte man das Schluchzen und das Weinen der Feenkönigin, und alle weinten mit, sogar der grausame König. Unablässig strich der Jüngling mit dem Stab über das Kästchen und die Feenhaare der Matuya, und es strömten Lieder daraus hervor, die das Herz bald traurig, bald fröhlich stimmten. Der König war außer sich vor Freude. Er erhob sich von seinem Thron und sprach: „Dir ist es gelungen, etwas zu schaffen, was man noch nie gesehen oder gehört hat auf der Welt. Du sollst meine schöne Tochter zur Frau bekommen und nach meinem Tod wirst du König über mein Reich sein.“

So ist es geschehen, und der Jüngling wurde ein gütiger und gerechter König, und mit seiner Frau hat er lange in Glück und in Liebe gelebt.

Dies ist die Geschichte, wie vor langer, langer Zeit die Geige auf die Welt gekommen ist. Und noch heute dringen daraus das Lachen und das Weinen der Feenkönigin.

Hört nur einmal ganz genau hin!

  (Märchen der Roma und Sinti)

 

„Da wurde es mit einem Male hell….“

Ist es nicht auch so in unserem Leben, dass alles ein bisschen heller erscheint, wenn da ein Mensch ist, der unseren Kummer erkennt und anerkennt?! Wir sind auf ein Gegenüber angewiesen, möchten uns gerne austauschen und Unterstützung erfahren im anderen. Allein in einem Kerker zu sitzen, scheint trost- und hoffnungslos. Manchmal ist dieser Kerker sogar ein schönes Zuhause oder gar ein luxuriöses Domizil. Das Märchen aber erzählt uns, dass das nicht wesentlich für Zufriedenheit und Glück ist.  Schauen wir genau hin, so sehen wir auch wenig Zufriedenheit bei dem grausamen König des erzählten Märchens. Erst als er sich den Gefühlen, dem Weinen und Lachen, öffnet und diese Gefühle seines Gegenübers anerkennt, annimmt und mit diesem lacht und weint, wird er ein König mit wahrlich königlicher Haltung. Er nimmt sich zurück, gibt seine Tochter zur Ehe frei und wird letztlich Macht und Reichtum an die nächste Generation weitergeben.